Gemeinsame Presseerklärung Frankfurt/M., Kiel, 17.03.2020
Zivilgesellschaftlicher
Appell zu 4 Jahren EU-Türkei-Deal und Covid-19 an
Europa: „Ultimative Aufforderung zum Handeln“
(Frankfurt am Main u.a.O.) Anlässlich
des vierjährigen Bestehens des EU-Türkei-Deals vom 18.
März 2016 haben sich zahlreiche Vereine, Initiativen und
NGOs – darunter der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
– in einem Appell an die europäische Öffentlichkeit
gewandt. Sie kritisieren die derzeitige Eskalation auf den
griechischen Inseln und an der griechisch-türkischen
Grenze als das „absehbare Ergebnis einer jahrelangen
desaströsen Politik“. Außerdem sei die drohende humanitäre
Katastrophe durch einen möglichen Ausbruch des
Covid-19-Virus in den Flüchtlingslagern eine „ultimative
Aufforderung zu sofortigem Handeln“.
„Die EU hat mit ihrer Flüchtlingspolitik
der letzten Jahre eine Situation geschaffen, in der jetzt
zehntausende Menschen in den Flüchtlingslagern schutzlos
der Pandemie ausgeliefert sind – unter katastrophalen
hygienischen Bedingungen und ohne jede medizinische
Infrastruktur. Die Verantwortlichen müssen jetzt sofort
handeln und ihre katastrophalen Fehler korrigieren. Die
Flüchtlingslager müssen sofort evakuiert werden und der
Schutz und die medizinische Versorgung der Menschen
sichergestellt werden“, so Ramona Lenz von der Frankfurter
Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico
international.
„Wir erleben eine Verletzung
grundlegender Menschenrechte, dem Europarecht und der
Genfer Flüchtlingskonvention. Menschen, die in Europa
Schutz suchen, werden mit Tränengas und scharfer Munition
beschossen, zusammengeschlagen, ausgezogen und illegal
über die Grenze zurückgeschoben. Das Recht auf Asyl wurde
in Griechenland einfach suspendiert und Menschenrechte
ausgesetzt. Dieser Skandal verdient all unsere
Aufmerksamkeit und die offensichtlichen Rechtsbrüche
müssen verfolgt und aufgeklärt werden“, so der
Rechtswissenschaftler Robert Nestler.
Während am Dienstag Bundeskanzlerin
Merkel und Frankreichs Präsident Macron mit dem türkischen
Staatsoberhaupt Erdogan über eine Aktualisierung des Deals
verhandelten, fordern die Unterzeichner das „sofortige
Ende der Vereinbarung und einen Stopp der Gewalt gegen
Migranten an den Außengrenzen. „Der EU-Türkei Deal hat
noch nie wirklich funktioniert. Allerdings hat er erneut
einem autoritären Regime Macht über die europäische
Politik gegeben. Und Erdogan hat diese Macht schon oft –
nicht zuletzt beim Krieg gegen die Kurden – ausgenutzt.
Jetzt hat er erneut seinen Drohungen Taten folgen lassen.
Dabei ging es ihm immer nur um Bilder, es war eine
schreckliche Inszenierung auf dem Rücken der Fliehenden.
Doch es ist Europas Migrationspolitik selbst, die ihm die
Macht dazu in die Hand gelegt hat“, sagt die
Migrationsforscherin Prof. Sabine Hess. Appell
Aufnehmen statt sterben lassen
Während Europa zum Schutz vor
Corona strenge Maßnahmen ergreift, kann Griechenland
die medizinische Versorgung der Geflüchteten nicht
sicherstellen.
Aufnehmen statt sterben lassen! Die Faschisierung
Europas stoppen!
Es war zu erwarten: 4 Jahre
Zuschauen zeigen jetzt ihre katastrophale Wirkung. Der
CoronaVirus hat auch die griechischen Inseln erreicht.
40.000 Menschen, zusammengepfercht in völlig
überfüllten EU-Hotspot Lagern wie Moria, unter
desaströsen Hygiene-Bedingungen und fast ohne
medizinische Versorgung, könnten schon bald der
tödlichen Krankheit ausgeliefert sein. Während
Europäische Staaten zum Schutz vor der Pandemie ihre
Grenzen schließen und selbst soziale Begegnungen von
Kleingruppen unterbinden, ist das von der
Austeritätspolitik und Wirtschaftskrise schwer
angeschlagene griechische Krankensystem in keiner
Weise in der Lage, bei einem großflächigen
Krankheitsausbruch die notwendige medizinische
Versorgung der Geflüchteten sicherzustellen. Und die
EU versperrt sich weiterhin allen Appellen, die Lager
zu räumen und die Menschen sicher zu evakuieren.
Vielmehr wird verstärkt abgeriegelt.
Dies passt dazu, was wir in den
letzten zwei Wochen an der griechisch-türkischen
Grenze beobachten konnten: Eine beispiellose
Brutalisierung der EU-Migrationspolitik, gepaart mit
der skrupellosen Verletzung grundlegender
Menschenrechte, Europarecht und der Genfer
Flüchtlingskonvention.
Menschen, die in Europa Schutz suchen, werden mit
Tränengas beschossen, zusammengeschlagen, ausgezogen
und illegal über die Grenze zurückgeschoben. Im
ägäischen Meer werden Fliehende aggressiv von der
griechischen Küstenwache attackiert, Motoren zerstört
und Schlauchboote aufgestochen. Auch was 2015 noch
unsagbar war, ist nun Realität geworden: Mit scharfer
Munition wird die Grenze verteidigt und mehrere
Menschen wurden an der griechisch-türkischen
Evros-Grenze erschossen. Damit hat sich die
europäische Grenzpolitik von einem passiven
Sterbenlassen an den Außengrenzen zu einer Politik
aktiven Tötens gewandelt.
Freiwillige Helfer_innen und
Mitarbeiter_innen internationaler Organisationen auf
den griechischen Inseln wurden in rechtsradikalen
Netzwerken zur Verfolgung ausgeschrieben und von
faschistischen Mobs gejagt und brutal
zusammengeschlagen. Faschist_innen aus ganz Europa
treffen auf den griechischen Inseln ein, soziale
Zentren und Solidaritätsstrukturen wurden in Brand
gesetzt.
Zudem wurde das Asylrecht für alle
Personen, die seit dem 1. März in Griechenland
eingereist sind, ausgesetzt. Die griechische Regierung
ließ durch ihren Regierungssprecher Stelios Petsas
mitteilen, dass sie einen Monat lang keine Asylanträge
mehr von Neuankommenden annehmen werde. Neu
eingereiste Geflüchtete werden unter ad-hoc
Haftbedingungen wie im Hafen auf Lesbos festgehalten
und sollen abgeschoben werden. Ihnen wird jedoch nicht
nur das Recht auf Schutz verweigert; laut
Zeitungsberichten gab es schon mehrere hunderte Fälle,
in denen Menschen wegen „illegaler Einreise“ zu
vierjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden.
// DIE EUROPÄISCHE ABKEHR
VON SÄMTLICHEN GRUNDRECHTEN
All dies tritt nicht nur die
vielbeschworenen europäischen Werte mit Füßen, sondern
verstößt gegen internationales Völkerrecht,
Europarecht, die Europäische Menschenrechtskonvention
und die Genfer Flüchtlingskonvention.
1. Griechenland hat sich zur
Einhaltung des völkerrechtlichen Grundsatzes des
NonRefoulement (Nicht-Zurückweisung) verpflichtet, der
in einer Vielzahl von völker- und menschenrechtlichen
Verträgen verankert ist (u.a. Art. 33 Genfer
Flüchtlingskonvention, Art. 3 Europäische
Menschenrechtskonvention). Die Waffengewalt an der
griechischen Grenze, als auch Abschiebungen ohne
Asylverfahren stehen im Widerspruch zu diesen
Rechtsnormen und stellen einen fortgesetzten
Rechtsbruch dar.
2. Ebenso ist das Verbot der
Kollektivausweisung menschen- und europarechtlich
verankert (Art. 19 Abs. 1 der europäischen
Grundrechte-Charta, Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur
EMRK). Auch Griechenland ist über die europäische
Grundrechte-Charta an diesen Grundsatz gebunden. Die
griechische Regierung kann sich auch nicht auf die
jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte (8675/15 und 8697/15) zur Praxis
der Pushbacks an der spanisch-marokkanischen Grenze
berufen: Der EGMR hat in dieser Entscheidung verlangt,
dass es eine legale Einreisealternative gibt und der
Antrag auf Schutz an anderer Stelle gestellt werden
kann. Eine solche Alternative existiert in
Griechenland keinesfalls, weder kann an anderen
Grenzübergangen oder in Polizeistationen ein
Schutzgesuch gestellt werden. Damit ist weder eine
Aussetzung des Asylrechts noch eine komplette
Grenzschließung rechtmäßig. Sowohl das
Zurückweisungsverbot als auch das Verbot der
Kollektivausweisung gelten unbedingt, und können zu
keinem Zeitpunkt und unter keinen Umständen ausgesetzt
werden – erst recht nicht durch eine juristisch nicht
verankerte Absprache, wie es der als Abkommen
bezeichnete EU-Türkei-Deal vom März 2016 darstellt.
Dennoch stellen sich die EU und
Deutschland schützend hinter Griechenland, das von der
EUKommissionspräsidentin von der Leyen ganz in Manier
einer Verteidigungsministerin als „das Schild Europas“
bezeichnet und mit 700 Millionen Euro für
Grenzaufrüstung unterstützt wird. Die Spirale der
Militarisierung nimmt immer weiter zu: Die Europäische
Grenzschutzagentur Frontex wird in einem RABIT
Sondereinsatz an die Grenze geschickt. Was sie tun
soll ist ungewiss – sich an den Erschießungen
beteiligen?
// TÜRKISCHE KRIEGSFÜHRUNG
MIT FLÜCHTLINGEN UND DER ANFÄNGERFEHLER DER
EU-MIGRATIONSPOLITIK
Es ist unglaublich, dass die
Europäische Union bereit ist, jegliche
Rechtsgrundlage, Moral und zivilisatorische Maske über
Bord zu werfen, weil zwischenzeitlich einige tausend
Menschen an der griechischen Grenze einen Asylantrag
stellen möchten. Der verhängnisvolle EU-Türkei Deal
vom 18. März 2016 hat wieder einmal einem autoritären
Regime Macht über die europäische Politik gegeben. Das
politische Mantra, 2015 dürfe sich nicht wiederholen,
erlaubt der EU kein Umdenken.
Dabei sind die Flucht-Migrant_innen in der Tat zur
Verhandlungsmasse und zur menschlichen Munition für
die eigenen militaristischen und innenpolitischen
Pläne der türkischen AKPRegierung geworden – in die
Hand gelegt durch eine EU Migrationspolitik, die über
Deals autoritäre Regime als Puffer Zonen Europas zur
Flüchtlingsabwehr aufbaut. Doch die Türkei ist nicht
sicher, sie gewährt Menschen ohne europäischen Pass
kein Asyl. Auch wenn die Türkei mit ihrer
militärischen Präsenz in Idlib das Ziel verfolgt, die
gewaltsame Vertreibung von weiteren rund 3,5 Millionen
Menschen durch die syrisch-russische Offensive in
Richtung ihrer Grenze zu verhindern, ist und bleibt
sie seit ihrem Angriff auf syrische Gebiete unter
kurdischer Selbstverwaltung selbst verantwortlich für
hunderttausendfache Vertreibung. Auch an der
türkisch-syrischen Grenze wird auf Flüchtende
geschossen – und die Türkei schiebt selbst nach Syrien
ab.
Bereits in den letzten Jahren hat
Erdogan in regelmäßigen Abständen mit der Aufkündigung
des EU-Türkei-Deals gedroht. Diesmal hat der türkische
Präsident seiner Drohung Nachdruck verliehen: Menschen
wurden in Bussen zur Grenze gefahren,
zusammengepfercht und zum Teil mit Schlägen und
vorgehaltener Waffe zum Grenzübertritt gezwungen. All
dies geschieht, um Bilder zu produzieren, die EU und
NATO dazu zu bringen sollen, die Türkei in ihrer
Kriegsstrategie zu unterstützen und Fluchtmigration
aus Syrien einzudämmen. Außerdem sollen Syrer_innen in
eine sogenannte „Sicherheitszone“ in die kurdischen
Gebieten im NordOsten Syriens abgeschoben werden.
Damit hätte der türkische Präsident zwei Fliegen mit
einer Klappe geschlagen: die kurdisch-demokratische
Selbstverwaltung empfindlich geschwächt und sich
gleichzeitig der temporär im Land geduldeten
Flüchtlinge entledigt.
Anstatt den Anfängerfehler der EU
Migrationspolitik – die Abhängigkeit von autoritären
Regimen – als Ursache des Problems zu erkennen,
versucht die EU die Türkei mit allen Mitteln zu
besänftigen. Dabei verkennt sie, dass der Deal noch
nie funktioniert hat und auch nie funktionieren wird:
weder der 1:1-Austausch (wobei für jede aus
Griechenland in die Türkei zurückgeschobene syrische
Person eine_n Syrer_in nach Europa umgesiedelt werden
sollte), noch die Leerung der griechischen Inseln
durch Abschiebungen. Das einzig funktionale Element
des Deals ist der Kuhhandel von Milliardenbeträgen für
gewalttätige Migrationsabwehr. Bricht dies weg, zeigt
sich das wahre Gesicht dieser hilflosen und
gescheiterten Migrationspolitik: Die Erschießung an
der EU-Außengrenze stellt dann nur die letzte logische
Konsequenz dar. Der EU-Türkei-Deal ist von Anfang an
gescheitert, jeder neue Versuch eines Deals wird
ebenso scheitern!
// DER ZWEIKLANG DER
ABSCHOTTUNG UND FASCHISIERUNG
Die Umdeutung der Willkommenskultur
von 2015 zu einer „Flüchtlingskrise, die sich nie
wiederholen dürfe“, kreiert eine derartige Angst, dass
lieber Erschießungen geduldet werden, als über
Aufnahme geredet wird. Dabei hat das
Abschottungsparadigma auch seine mörderische
innenpolitische Seite. Während bis heute zahlreiche
Städte und Gemeinden – wie in dem Netzwerk „Städte
Sichere Häfen“ – nach wie vor für eine Praxis und
Kultur des Willkommens und der offenen Gesellschaft
stehen, hat die Politik mit ihrer Dämonisierung der
Migration als „die Mutter aller Probleme“ auch
innergesellschaftlich Diskurse und Taten der
„Verteidigung Europas“ hoffähig gemacht. Insofern ist
die Faschisierung an der Außengrenze eng verwoben mit
dem erstarkenden Rechtsterrorismus und Angriffen auf
die Grundlagen der Demokratie in den europäischen
Gesellschaften. Europa steht an einem Scheideweg: Wir
können diesen Wahnsinn nur mit einer Rückkehr zu
grundlegenden Rechten, Offenheit und
Aufnahmebereitschaft begegnen.
Wir fordern:
- Die sofortige Evakuierung aller
Migrant_innen von den griechischen Inseln und aus
allen überfüllten Lagersituationen
- Effektive Schutzmaßnahmen gegen den
Corona-Virus für Migrant_innen
- Den sofortigen Stopp der staatlichen
Gewalt und der Ermordung von Migrant_innen an den
Außengrenzen
- Die sofortige Beendigung des EU-Türkei
Deals
- Eine aktive EU-Politik um die gewaltsame
Vertreibung von Millionen von Menschen in Syrien
zu beenden
- Die Wiederherstellung des Asylrechts,
rechtsstaatlicher Asylverfahren und die
Demilitarisierung der Außengrenze
- Die Einhaltung geltender Völker-,
Menschen- und Europarechtlicher Vorgaben beim
Umgang mit den ankommenden Menschen
- Die Aufnahme der Menschen in den
solidarischen Städten,
- Eine europäische Politik, die selbst nicht
andauernd Fluchtursachen produzieren.
Erstunterzeichner*innen
- KritNet
- bordermonitoring.eu
- Adopt a Revolution
- Komitee für Grundrechte und Demokratie
- Equal Rights Beyond Borders
- medico international
- SEEBRÜCKE – Schafft Sichere Häfen!
- Republikanischer Anwältinnen – und Anwälteverein
e.V. (RAV)
- borderline-europe e.V.
- Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
- Sächsischer Flüchtlingsrat e.V.
Unterzeichner_innen:
- Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik
- Hessischer Flüchtlingsrat
- Kölner Flüchtlingsrat e.V.
- Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus
- Flüchtlingsrat Hamburg e.V.
- Flüchtlingsrat Brandenburg
- Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
- Alarmphone
- Mare Liberum
- iuventa 10
- Vereinigung Demokratischer Juristinnen und
Juristen e. V. (VDJ)
- Flüchtlingsrat Sachsen Anhalt
- Flüchtlingsrat Baden-Würtemberg
- Legal Centre Lesvos
- Lübecker Flüchtlingsforum e.V.
- Kölner Flüchtlingsrat e.V.
- Aufstehen gegen Rassismus Schleswig-Holstein
- Runder Tisch gegen Rassismus und Faschismus Kiel
- colorido e.V.
- marxistische linke – ökologisch, emanzipatorisch,
feministisch, integrativ e.V.
- Berliner Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und
Antifaschisten e.V.
- Omas gegen Rechts
- Münchener Bündnis gegen Krieg und Rassismus
Veröffentlicht am 17. März 2020: https://www.frsh.de/artikel/aufnehmen-statt-sterben-lassen/ —